Einige Tage später gehe ich das erste Mal nachts auf Patrouille. Start der Patrouille ist 10 Uhr abends, für 4 Stunden. 7 Kilometer Strand sind abzugehen. Mein erster Abend Patrouille ist erlebnisreich, aber auch mehr als frustrierend. Gleich 5 großen Lederschildkröten begegnen wir – was für ein Anblick. Ich staune! Wie kann sich eine kleine Baby-Schildkröte in eines dieser riesigen Tiere verwandeln? Allerdings sind uns bei 4 Schildkröten die Wilderer zuvorgekommen; die fünfte inspiziert den Strand und beschließt wieder ins Meer zurückzukehren. Es ist frustrierend. Die Wilderer verdienen gutes Geld; rd. 1 US-Dollar pro Schildkrötenei wurde mir erzählt. Die Lederschildkröten legen zwischen 50 und 100 Eier in einer Nacht – gutes Geld. Das ist nun mal die Realität. Das Projekt ‚La Tortuga Feliz‘ befindet sich an einem ‚vergessenen‘ Strand. Vor Ort leben nur rd. 15 Einheimische, Polizeipatrouillen sind selten und so kommen immer wieder Wilderer von außerhalb und rauben Schildkröteneier – und töten die grünen und die Karettschildkröten. Es ist im Gespräch, daß jenseits der Flußmündung demnächst eine Station der Küstenwache mit Unterstützung der US-Amerikaner gebaut werden soll. Die USA sind daran interessiert, den Drogentransfer, der durch dieses Gebiet läuft, zu unterbinden. Die Polizeipräsenz würde sich aber auch positiv für die Schildkröten auswirken.
Wie gesagt, die erste Nachtpatrouille frustrierte mich sehr, ebenso wie unseren Guide Jeison. Trotz der späten Heimkehr morgens um 2 Uhr war ich am nächsten Morgen früh wach. Die Sonne schien! Der von mir befürchtete Dauerregen, da ja jetzt die Regenzeit in Costa Rica begonnen hat, bleibt aus. Wir haben überwiegend schönes Wetter. Und die heftigen Platzregen, die immer wieder vorkommen, laden einen ein in der Hängematte liegen zu bleiben – es sei denn, die hatchery-Schicht oder Patrouille ruft. Das war dann einfach naß, naß, naß!
Ich verbringe meine Tage zwischen Patrouillen, hatchery-Schichten, Küchendienst, Badreinigung und Gartenarbeit. Trotzdem bleibt noch genug Zeit für die Hängematte. Was für ein Glück, daß es im Projekt eine kleine Bibliothek gibt. Freie Zeit zum Lesen gibt es genug. Ich liebe die hatchery-Schicht von 17 bis 20 Uhr, da zu dieser Zeit die meisten Babies schlüpfen. Mein Foto bleibt fast immer ausgeschaltet, da wir Nachts nur Rotlicht einschalten. Also nicht genug Licht um aktive kleine Schildkrötenbabies zu fotografieren. Aber auch die Morgenschicht von 6 bis 10 Uhr gefällt mir. 2 Stunden morgens angenehme Kühle, bevor ab 8 Uhr wieder der Schweiß in Strömen läuft. Manchmal verfliegt die Zeit in der hatchery, an anderen Tagen zieht sie sich wie Kaugummi dahin. Und meine Abendschicht mit Blitz, Donner und strömenden Regen werde ich auch so schnell nicht vergessen. Hatten wir uns doch beim Abendessen noch über gruselige Momente bei Nacht und Kriminalromane mit Psychofaktor unterhalten. Und eine Stunde später stand ich alleine in stockfinsterer Nacht bei strömenden Regen, die ab und zu von einem Blitz aufgehellt wurde, und mußte alle 15 Minuten meinen Kontrollgang durch die hatchery machen…. Da hatte ich doch Mühe meine Fantasie im Zaum zu halten.
Auch wenn meine Patrouillen nicht so erfolgreich waren, hatte ich doch Gelegenheit aus unmittelbarer Nähe die wundervollen Lederschildkröten zu betrachten und zu vermessen. An einem Abend kam eine Lederschildkröte zur Eiablage fast unmittelbar vor unsere Haustür. Es ist ein unglaubliches Gefühl diese riesigen, auf Land so ungelenken Tiere aus dem Meer kommen und auf dem Strand ihren Eiablageplatz suchen zu sehen. Als der Platz dann für geeignet befunden wurde, legte die Schildkröte mit dem Graben los. Ich traute meinen Augen nicht, mit welcher Präzision, Vorsicht und Eleganz dieses ungelenke Tier mit seinen hinteren Flossen das Loch für die Eiablage aushebt. Und wie tief. Immer wieder wird mit der Flosse die Tiefe des Nestes gemessen, bevor es mit dem Graben weiter geht. Um die Sache ein bißchen zu beschleunigen, grub unser Guide Jeison mit. Erstaunlich, daß sich die Schildkröte dadurch nicht stören ließ. Merkt sie nicht, daß das Loch viel schneller an Tiefe gewinnt als sonst? Naja, wer nur alle 2 bis 3 Jahre zur Eiablage an Land kommt, erinnert sich vielleicht nicht so genau an die Arbeit des letzten Mals…. Tatsächlich befinden sich die Schildkröten jedoch in einer Trance sobald sie mit dem Nestbau beginnen. So lassen sie sich in ihrer Arbeit kaum stören und bekommen auch nicht mit, daß wir ihnen ihre Eier direkt unter dem Hintern wegstibitzen. Die Eier fallen direkt in einen Plastiksack, den wir über dem Nest aufhalten.
Während Jeison und seine Patrouille die Eier in die hatchery bringen, habe ich mit Anne und Jenny Zeit und Muße unsere Lederschildkröte weiter zu beobachten. Wir haben unseren freien Abend. Nichtsahnend, daß ihre Eier schon lange nicht mehr in dem von ihr mühsam gegrabenen Loch liegen, müht sich die Lederschildkröte ab, ihr Nest wieder mit ihren Hinterflossen zu schließen. Danach verwendet sie unendliche Zeit darauf das Nest zu tarnen. Der komplette Strandabschnitt wird dabei umgepflügt. Eine Vierteldrehung nach rechts und kräftiges Schaufeln mit den vorderen Flossen, eine halbe Drehung nach links und kräftiges Schaufeln, zwei Mal robben und schaufeln …. So geht es unendlich lange. Jedes Mal, wenn die Vorderflossen in Aktion sind, fliegt der Sand tonnenweise durch die Gegend. 15, 30, 45 Minuten; es ist bereits Mitternacht. Schließlich wird Anne ungeduldig; sie hat morgen die frühe hatchery-Schicht ab 6 Uhr: ‚Beeil dich mal ein bißchen, ich muß morgen früh raus, um auf deine Kinder aufzupassen.‘ Unbeirrt schaufelt unsere Lederschildkröte weiter Sand. Über eine Stunde nach der Eiablage ist sie mit der Tarnung ihres Nestes zufrieden und macht sich auf den Weg ins Meer. Auch das ist ein einmaliges Spektakel, wenn dieses riesige Ungetüm (Panzerlänge 1,65 Meter!) den Strand entlangrobbt und nach und nach von Wellen überspült im Meer verschwindet. Ich stehe da und sehe auf das Meer hinaus und frage mich, ob alles nur ein Spuk war.
Aber nein, ich erinnere mich noch lebhaft an das Gefühl als ich ein paar Tage zuvor mit meinem Guide Hernan eine Lederschildkröte vermessen habe. Die Lederschildkröte war bereits dabei ihr Nest zu tarnen, als wir sie sahen. Sie schaufelte Sand und wir wollten ihre Markierungen an den hinteren Flossen lesen. Wir hatten zwar Erfolg, aber bei dieser Aktion habe ich so viel Sand wie noch nie zuvor ins Gesicht geschaufelt bekommen. Was für eine Wohltat war da die kalte Dusche morgens um 2 Uhr um den Sand abzuspülen!
Die letzte Woche wurde es ruhiger im Projekt. Die Saison der Lederschildkröten war zu Ende, die grünen Schildkröten ließen auf sich warten. Gleich in der ersten Woche informierte uns die Küstenwache, daß die grünen Schildkröten sich bereits im Meer vor der Küste paaren. Sie ließen sich allerdings nicht am Strand blicken. Die Patrouillen kamen jeden Abend ohne Erfolg zurück. Schade. Nur Anne bringt mit ihrem Guide zwei Mal die Eier einer Karettschildkröte in die hatchery. Eine Seltenheit, da jede Saison nur 5 oder 6 dieser Schildkröten ihre Eier an diesem Strandabschnitt ablegen. Da ich inzwischen fußkrank bin, verpasse ich nichts. Zuviel im weichen Sand gelaufen – meine Achillessehnen schmerzen.
Schweren Herzens reise ich 3 Tage früher als geplant ab um zum Arzt zu gehen. Ruhe, Dehnen, Tabletten, Salbe, Eis zum Kühlen. So habe ich viel Zeit über die letzten knapp 3 Wochen ‚La Tortuga Feliz‘ nachzudenken. Hat sich mein Aufenthalt bei ‚La Tortuga Feliz‘ gelohnt? Würde ich wieder hinfahren? Uneingeschränktes JA! Ich habe viele nette Leute kennengelernt und eine professionelle Arbeit mit den Schildkröten durch wirklich engagierte Leute – hier sind Daniela, Alessia und Justin zu nennen, die die tägliche Arbeit bei ‚La Tortuga Feliz‘ managen – erlebt. Natürlich gab es auch einige Punkte, die mir negativ aufgefallen sind. So bin ich der Meinung, daß ein wenig mehr Engagement seitens des Managers von ‚La Tortuga Feliz‘ dem Projekt, den Voluntären und vermutlich auch der Gemeinde guttun würde. Aber ich hätte auch bei dem ein oder anderen Guide vor Ort mehr Engagement für die Arbeit erwartet und nicht nur Interesse an Gesprächen über Frauen. Aber was erwarte ich bei einer so kleinen Gemeinde vor Ort, die überwiegend aus alleinstehenden Männern besteht? Aber alles in allem macht ‚La Tortuga Feliz‘ einen tollen Job. Ich hoffe, das bleibt auch in der Zukunft so.