Ich glaube, ich hatte schon erwähnt, daß Rapa Nui aufgrund seiner Lage mitten im tiefblauen Pazifik auch als die einsamste Insel der Welt bezeichnet wird. Als ich am Kraterrand des Vulkans Rano Kau stehe, kann ich das gut nachempfinden. Eine umwerfende Landschaft mit einem spektakulären Blick in den Krater auf der einen Seite. Und drehe ich mich um, dann sehe ich auf der anderen Seite nur blau, blau, blau. Pazifik ohne Ende. Die Einsamkeit ist förmlich greifbar.
Hier am Vulkan Rano Kau besuche ich die Kultstätte Orongo, die Zentrum des Vogelmannkults war und dem Gott Makemake huldigte. Der Höhepunkt der Zeremonien an diesem Ort bestand in einem Wettkampf zwischen den verschiedenen Stämmen. Je Stamm ging ein Wettkämpfer in das Rennen um ein Ei. Ein Rennen um das erste Ei der Saison der Russseeschwalbe um genau zu sein. Denn wer dieses Ei zuerst – heil – nach Orongo brachte, sicherte seinem Stamm für das nächste Jahr den Führungsanspruch über alle Stämme. Dazu mußte der Wettkämpfer nur (!) von Orongo aus die steilen Felsklippen hinunter ans Wasser klettern, auf einem Schilffloß über das Meer zu dem kleinen Inselchen Moto Nui schwimmen, ein Ei einsammeln und dieses wieder heil die Klippen hinauf nach Orongo bringen. Der Sieger wurde dann zum Vogelmann gekürt. Mit ein bißchen Fantasie kann ich mir die von Kopf bis Fuß bemalten Wettkämpfer lebhaft vorstellen; bekomme jedoch das Gruseln bei dem Gedanken, daß sicherlich dem einen oder anderen die steilen Klippen zum Verhängnis wurden. Und wieviele hungrige Haie mögen sich ihr Mittagessen so wohl geholt haben? Und das alles wegen einem Ei?!
Mit Orongo lerne ich den ‚jungen‘ Teil der geheimnisvollen Geschichte Rapa Nuis kennen, denn der Vogelmannkult entstand erst als die großen berühmten Steinstatuen von Rapa Nui – die Moai – bereits auf der Nase lagen. Ja, richtig gelesen, alle Moai wurden gezielt umgestoßen. Der letzte stehende Moai wurde von einem Segler um 1830 gesichtet. Alle heute – wieder -stehenden Moais wurden viel, viel später – größtenteils im 20. Jahrhundert – wieder aufgestellt. Stellt sich die Frage, warum um Himmels willen wurden alle Moais umgestoßen? Vermutlich waren wohl Stammesfehden schuld, die auf der Insel ausgetragen wurden. Aber eine bestätigte Überlieferung gibt es nicht, wie für so viele andere Fragen den Kult um die Moais betreffend. Deshalb ist Rapa Nui auch die geheimnisvollste Insel der Welt. Mystisch, geheimnisvoll, faszinierend. Und so betrachte ich die Moais, die ich kennenlerne, mit neuen Augen.
Da gibt es Plattformen, wie den Ahu Vaihu, neben der 8 umgestoßene Moai auf der Erde liegen. Ihre Kopfaufsätze liegen verstreut herum. Fast bekomme ich eine Gänsehaut beim Betrachten dieser großen, leblosen Steinkörper, die da nebeneinander mit dem Gesicht nach unten aufgereiht und mit den Füßen noch auf der Plattform liegen.
Dann wieder betrachte ich den fantastischen Ahu Tongariki auf dem 15 Moai-Statuen – von einem japanischen Kranunternehmen werbewirksam wieder aufgerichtet – stehen. Diese Moais mußten vor ihrer Wiederauferstehung erst einmal wieder zu der Zeremonialplattform gebracht werden. 1960 löste ein Erdbeben zwschen Rapa Nui und dem chilenischen Festland einen Tsunami aus, der einige Statuen mehr als 100 Meter weit ins Landesinnere trug. Außerdem steht ein 16. Moai in Abstand von der Zeremonialplattform. Dieser wird von den Einheimischen heute liebevoll ‚the Traveller‘ genannt, denn er war schon auf Reisen zu einer Ausstellung in Japan.
Und ein wenig abseits des Ahus liegt noch der ’schlafende‘ Moai auf dem Rücken auf dem Boden. ‚Der Schlafende‘ hat noch keine ausgeformten Augenhöhlen, woran die Archäologen erkennen, daß dieser Moai niemals aufgerichtet auf einer Zeremonialplattform gestanden hat. Er ist einer der auf dem Transportweg gestrandeten Moais, als scheinbar von heute auf morgen irgendwann in ferner Vergangenheit die Moai-Herstellung eingestellt wurde. Und so findet man an verschiedenen Stellen mitten auf Rapa Nui Moais, die auf ihrem Weg aus dem Steinbruch von Rano Raraku hinaus zu ihren Zeremonialplattformen einfach stehen- bzw. liegengelassen wurden. Und dort warten sie noch heute, nach über einem Jahrhundert, geduldig auf ihren Weitertransport….
Aber nichts bereitet mich auf den Anblick der Moais am Steinbruch des erloschenen Vulkans Ranu Raraku vor. Hier ist die ‚Geburtsstätte‘ der Moai. In den Steinbrüchen meißelten die Rapa Nui ihre gigantischen Statuen aus dem Stein heraus. Hier im Steinbruch stehen noch unzählige Steingiganten: still, unbeweglich, mit steinernen Gesichtszügen, starren Augenhöhlen, zumeist bis zur Brust oder bis zum Hals in der Erde steckend. Ich wandere zwischen diesen starren Figuren herum. Blicke hier in unvollendete Augenhöhlen, sehe dort markante Gesichtszüge. Ich bin mit den Moais auf Augenhöhe – aber nur weil sie bis zum Hals im Dreck stecken. Bedeckt durch die Erde von Jahrhunderten. Es löst leichtes Unbehagen in mir aus, wenn ich mir vorstelle, daß unter der Erdoberfläche die riesigen Körper der Moai stecken oder ich womöglich auf vollständig begrabenen Moais herumspaziere. Fast 900 Moais wurden auf Rapa Nui hergestellt und davon befinden sich noch fast 400 Statuen vollendet oder unvollendet hier im Steinbruch. Vergessen. Erstarrt. Von Erde festgehalten. Mit einem leichten Schaudern erwarte ich, daß diese stummen Steingiganten jeden Moment zu Leben erwachen, den Kopf bewegen und losmarschieren – was der Legende nach auch irgendwann eintreten wird…
Ob sich dann auch die unvollendeten Moais aus dem Fels herausschälen werden? An einer Stelle finde ich einen Moai, der bei Fertigstellung gut und gerne 20 Meter groß geworden wäre und vermutlich soviel wie eine Boing 747 gewogen hätte. Waren die damaligen Steinmetze und ihre Auftraggeber größenwahnsinnig? Diese Giganten transportieren zu wollen? Die größte aufgerichtete Figur mit Namen Paro am Ahu Te Pito Kura ist ’nur‘ 9,8 Meter hoch. Im Durchschnitt lagen die Statuen jedoch bei einer Größe von 4,05 Metern und einem Durchschnittsgewicht von 12,5 Tonnen. Was für eine Leistung diese Statuen von dem im Landesinneren gelegenen Steinbruch über Kilometer zu ihren jeweiligen Zeremonialplattformen zu bugsieren. Wie das wohl geschah? Die Statuen tanzten, berichtet die Überlieferung. Wurden sie also stehend transportiert? Oder doch liegend? Rätsel über Rätsel.
Und so stehen die heute wieder aufgerichteten Moais stumm auf ihren Plattformen am Wasser, blicken fast alle ins Landesinnere starren Blickes und behüten ihre Vergangenheit. Fast komme ich mir von ihnen beobachtet vor: ‚Big Brother is watching you‘. Doch halt, es fehlen ihnen ja die Augen, die den Statuen vermutlich nur zu bedeutenden Zeremonien eingesetzt wurden. Also stumme, blinde Wächter. Auf jeden Fall behüten sie ihre Geheimnisse gut.
Aber nicht jeder scheint diese Mischung aus Respekt und Ehrfucht gegenüber diesen Steingiganten zu empfinden, der sich bei mir einstellt. Wurde doch ein finnischer Besucher 2008 dabei ertappt wie er das Ohr eines Moais abbrechen wollte, um es als Souvenir mit nach Hause zu nehmen. Was denken sich die Leute eigentlich?
Statt ein Stückchen Moai erbeuten zu wollen, genieße ich ihren Anblick am Strand von Anakena. Ein weiterer Superlativ: Dies ist weltweit der einzige weiße Sandstrand mit herrlichem Kokospalmenwäldchen und archäologischen Stätten. Denn auch hier befindet sich eine Zeremonialplattform, der Ahu Nau Nau, auf dem 7 Moais stehen. Mit dem Rücken zu dem herrlichen türkisblauen Wasser und weißen Sand. Schade nur, daß das Wetter nicht zu einer ausgiebigen Badepartie einlädt.
Nach so vielen steinernen Zeitzeugen verbringe ich den 4. Tag mit einer Herausforderung der ganz anderen Art. Ich erklimme den erloschenen Vulkan Maunga Terevaka, dessen baumloser Hügel mit 507 Metern die höchste Erhebung der Insel ist. Eine herrliche Landschaft und je höher ich komme, desto besser der Rundblick über die ganze Insel. Allerdings kann ich der Landschaft nicht meine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen, denn ich sitze auf dem Rücken eines Pferdes. Es ist ein ungewohntes Gefühl nach so langer Zeit mal wieder hoch zu Ross durch die Landschaft zu reiten. Ich bin ein wenig unentspannt. Ungewohnt zum einen, und ein faules Pferd zum anderen. Ich muß mich abrackern, um den Gaul in Bewegung zu halten. Insbesondere den Hügel hinauf möchte er sich vor dem Galopp drücken. Und bereits nach 2 Stunden als wir auf dem Maunga Terevaka ankommen, ist mir klar, daß ich am nächsten Tag einen unglaublichen Muskelkater haben werde.
Und so verbringe ich meinen letzten Tag auf Rapa Nui eher faul. Morgens fahren wir in die ‚Hutmacherei‘, den kleinen Vulkankrater Puna Pau. Hier wurden die schweren rötlichen Kopfaufsätze – Hüte oder Haarknoten – der Moai hergestellt.
Nachmittags bummele ich noch einmal durch das Städtchen Hanga Roa und esse in einem kleinen Restaurant am Hafen mit Terrasse zum Wasser zu Abend. Denn Ricardo, der Koch von Jerome, hat Sonntags seinen freien Tag und so muß ich mich selber um meine Verpflegung kümmern. Und dann bietet mir Rapa Nui zum Abschluß dieser Woche noch einen wunderschönen Sonnenuntergang.