Wieder einmal nehme ich einen Nachtbus. Von Cordoba nach Mendoza. In Santiago auf dem Busbahnhof war alles trotz der Menschenmassen noch so schön geordnet: Alle Busse – und es waren so viele, viele, viele – wurden mit Busunternehmen, Uhrzeit, Destination und ihrem jeweiligen Busbahnsteig angezeigt. Dazu gab es den Luxus von verständlichen Lautsprecherdurchsagen. Und hier? Hier gibt es vielleicht keine 75 Busbahnsteige wie in Santiago, aber es sind immer noch mehr als genug. 30, 40 oder mehr? Anzeigetafel? Lautsprecherdurchsage? Fehlanzeige! Am Schalter meiner Busgesellschaft Andesmar erhalte ich die Auskunft, daß mein Bus Bahnsteig 1 bis 15 abfährt. Hm, habe ich das richtig verstanden? Ich frage nochmal nach; traue meinen Spanischkenntnissen nicht. Aber ich habe alles richtig verstanden. Der Bus wird an einem der Bahnsteige 1 bis 15 halten, an welchem genau, kann man vorher nicht sagen. Eben an einem Bahnsteig, der gerade frei ist. Das würde ich dann schon sehen, wenn der Bus einfährt, wir mir versichert. Und das auf so einem trubeligen Busbahnhof!
Also positioniere ich mich 30 Minuten vor Abfahrt so günstig wie möglich. Plattform 1 bis 11 habe ich im Blick, der Rest ist hinter einer fetten Betonsäule verborgen. Aber alle Busse müssen ja an Plattform 1 vorbeifahren; also fange ich an Busse zu beobachten. Nach 10 Minuten kann ich schon vorhersagen, welche Busse an Plattform 1 bis 15 anhalten und welche die weiter hinten gelegenen Bahnsteige anfahren. Busse ohne Ende fahren an mir vorbei. In allen Farben und Zuständen. Gefühlt gibt es so viele Busunternehmen wie Sand am Meer. Nur meine blauen Andesmar-Busse lassen bisher auf sich warten. 10 Minuten vor Abfahrt kommt schließlich ein Andesmar-Bus in den Busbahnhof gefahren. Nicht meiner. Aber der nächste blaue Bus, der dann 2 Minuten später an Plattform 9 hält, ist dann meiner. Noch ein wenig länger Busse beobachten und ich hätte bald als lebende Anzeigetafel arbeiten können.
Wir haben einen lustigen Steward auf der Busfahrt. Lucas ist ganz geknickt, als ich abends um 22 Uhr auf sein Abendessen verzichte. Es wäre doch so lecker! Ob ich wirklich keinen Hunger hätte? Nein, wirklich nicht. Ich erkläre ihm, daß für uns Deutschen ein Abendessen um diese Uhrzeit einfach viel zu spät wäre. Nun, dann aber vielleicht ein Weinchen? Den Gefallen tue ich ihm gerne, denn schließlich fahre ich ja in das Weinanbaugebiet Mendoza.
Essen um 22 Uhr. Für die Argentinier normal – oder eher ein wenig zu früh. Ich habe abends um 19 Uhr Probleme ein offenes Restaurant zu finden. Wenn ich um 22 Uhr das Restaurant verlasse, dann trudeln normalerweise die ersten argentinischen Gäste ein. Und nachts kurz vor Mitternacht vor dem Steakhaus noch Schlange stehen und auf einen freien Tisch warten? Hier nichts ungewöhnliches. In Deutschland würde man eher an eine Fata Morgana glauben. Das ein oder andere Mal in Gesellschaft esse auch ich spät. Das endet dann meistens damit, daß ich nicht richtig schlafen kann, weil mein Bauch einfach zu voll ist.
Heute im Bus dagegen schlafe ich gut. Kein spätes Essen, ein kleiner Rotwein und Sitze, die man komplett als Liegefläche umlegen kann. Ich bekomme ein Kopfkissen, eine Decke – was will ich mehr?
Morgens um 6:00 Uhr bin ich dann in Mendoza. Diesmal ausgeschlafener als bei meiner Ankunft in Cordoba. Kurz vor dem Aussteigen krame ich meine Hosteladresse hervor. Ich mache mich diesmal zu Fuß auf den Weg, denn das Hostel liegt nur ein paar Straßenblöcke vom Busbahnhof entfernt. Das ‚Lao Hostel‘ begeistert mich von Anfang an. Nettes Zimmer, netter Aufenthaltsraum und supernette Leute. Eines der besten Hostels, das mir bisher auf meiner Reise begegnet ist. Ich kann gleich meine Sachen loswerden und trinke erst einmal einen Tee.
Gleich am Frühstückstisch lerne ich Tanja kennen, eine Deutsche, die 8 Wochen durch Argentinien gereist ist. Wir verabreden uns für den Abend. Sie geht trekken und ich in die Stadt. Irgendwie hatte ich mir Mendoza viel, viel größer vorgestellt. Aber die Stadt macht den Eindruck einer Kleinstadt: breite Straßen mit Baumalleen, viele Einfamilienhäuser, kleine Parks und gute Eisdielen – Mendoza ist für sein gutes Eis bekannt. Und doch sagt mir mein Reiseführer, daß Mendoza mit seinen 1,1 Mio. Einwohner eigentlich nur unwesentlich kleiner ist als Cordoba. Also doch keine Kleinstadt!
Mendoza ist nicht nur für sein gutes Eis bekannt, sondern vor allem für seinen guten Wein. Die Gegend um Mendoza ist eigentlich eine Trockensteppe, aber durch ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem ist hier Weinanbau möglich. Mit Tanja melde ich mich abends für eine Weintour am nächsten Tag an.
Wie sich am nächsten Morgen herausstellt, sind wir zu sechst. Unser erster Weg führt uns zu einem Kiosk, an dem wir uns eine Busmagnetkarte kaufen. Zwar ist Busfahren hier auch mit Münzgeld möglich, aber in Argentinien besteht eine chronische Münzgeldknappheit. Münzen muß man sich hartnäckig ersammeln. Selbst in Supermärkten ist jeder immer auf der Jagd nach Münzen und Kassierer haben Probleme mit ausreichendem Wechselgeld. In Bäckereien wurde ich bereits das ein oder andere Mal statt mit Wechselgeld sprichwörtlich mit einem Brötchen abgespeist.
40 Minuten Busfahrt bringen uns dann von Mendoza aus nach Charcas, einer Kleinstadt inmitten von Weinanbau. Eine Bodega reiht sich an die andere. Wir erkunden 4 davon per Rad: Wir mieten Fahrräder, erhalten eine kleine Karte, auf der unsere Anlaufstationen, die Bodegas, markiert sind, einen Hinweis zum Mittagessen und ein paar Hinweise zu den Straßen. Und los geht es. Die erste Weinkellerei liegt gleich am Ortsrand, kaum daß wir in die Pedale gestiegen sind, gibt es schon morgens um 11 Uhr die erste Rotweinprobe – Malbec und Cabernet Sauvignon. Ich bin wenig beeindruckt und überlege, ob wir entgegen den Versprechungen unseres Hostelbesitzers doch nur an Billigweinanbieter geraten werden bei unserer Weinprobe. Zwar hat die Weinkellerei einen netten kleinen Garten mit einladenden Gartenmöbeln, aber nach 3 getesteten Rotweinen schwingen wir uns wieder auf die Fahrräder. Diesmal müssen wir wirklich ein Stück radeln.
Eine halbe Stunde Fahrt bringt uns zu Carmelo Patti. Vorgewarnt halten wir nach der Hausnummer Ausschau. Ein Schild oder einen anderen Hinweis, daß sich hinter der Mauer eine Weinkellerei verbirgt, gibt es nicht. Hier empfängt uns der Chef persönlich. Er ist fast schon eine Legende in Mendoza. Carmelo Patti stellt seit fast 4 Jahrzehnten Wein in Mendoza her. Jeder Winzer hat sicherlich eine kreative Ader, aber Carmelo Patti scheint die Personifizierung eines Weinkünstlers zu sein und so kümmert er sich in seiner Bodega persönlich um jede Seite der Weinverarbeitung – und auch um die Vermarktung. Während wir kosten erzählt er uns über seine Arbeit – er spricht über seinen Wein wie von seiner Familie, so daß im Gespräch mit ihm Weinherstellung plötzlich eine neue faszinierende Dimension erhält. Auch in der Vermarktung seiner Weine ist er mehr als eigenwillig – wie bereits das fehlende Türschild beweist. Man kennt ihn in der Branche und so stellt er in seiner Bodega eine ausgesuchte Menge Weine her, die er erst dann auf den Markt gibt, wenn er selbst sie für ‚reif‘ erklärt. Carmelo Patti lässt uns von seinem Meisterwerk ‚Gran Assemblage‘, einer Mischung verschiedener roter Trauben, kosten – und er schmeckt vorzüglich! Selbst ich als Weinlaie schmecke den runden Fruchtgeschmack heraus.
Gut beschwingt nach diesem tollen Bodega-Erlebnis machen wir uns auf die Fahrt zum Mittagessen. Es wird Zeit, daß wir etwas zu Essen in den Magen bekommen. An unserem nächsten Stop Clos de Chacras erwartet uns ein sehr nettes Ambiente im Restaurant. Vielleicht zu nett? Denn das Essen kann mit dem Ambiente nicht so ganz mithalten. Ich habe sicherlich schon besseres Fleisch in Argentinien für diesen Preis gegessen. Wir kosten zum Essen den hauseigenen Malbec. Nach dem ‚Gran Assemblage‘ von Carmelo Patti kann das – auch wenn er nicht schlecht ist – nur eine Enttäuschung sein.
Nach einer ausgiebigen Pause setzen wir uns kurz vor 15 Uhr erneut auf die Fahrräder. Inzwischen sind locker über 30 Grad im Schatten. Ein perfekter Tag für eine Weinprobe per Fahrrad ;-). Aber noch sind wir alle – England, Island, Deutschland – fit und radeln ohne Pannen nach ‚Altavista‘, einem taditionsreichen Weingut aus dem Jahr 1890. Das Weingut ist seit etwas mehr als einem Jahrzehnt in französischer Hand und eine ganz andere Größenordnung als Carmelo Patti; um nicht zu sagen, genau das Gegenteil. Es erwartet uns eine professionelle Führung durch den Weinbetrieb; wir sehen die traditionellen Steintanks, die neuen Stahlbehälter und machen einen Gang durch den Weinkeller mit seinen Barriquefässern. Hier in Altavista werden einige der besten Weine von Argentinien hergestellt – in rot Malbec und Cabernet Sauvignon und in weiß Torrontes. Wir erhalten ein feines Sortiment zum Probieren. Auch wenn wir ’nur‘ an einer gemütlichen Bar sitzen – denn die professionelle ‚Weinprobenstube‘ bleibt uns Weinbanausen natürlich verschlossen. (Wir linsen beim Hinausgehen nur durch das Türglas, als eine der High-end-Weintouren dort Platz nimmt.)
Von dem Torrentes bin ich so begeistert, daß ich eine Flasche einpacke. Zum Glück sammelt unserer Fahrradvermieter die gekauften Weine ein und wir können unsere Fahrradtour unbelastet fortsetzen. Es geht zurück zum Startort und nachdem wir unsere Fahrräder abgegeben haben, machen wir uns zum Abschluß auf den Weg in die lokale Schokolaterie – oder doch Likörstube? Auf jeden Fall rundet eine Probe von verschiedenen Likörchen und Schokoladen den Tag ab. Als wir ein wenig später den Bus zurück nach Mendoza nehmen, muß ich aufpassen, daß ich nicht unsere Bushaltestelle verschlafe. Trotzdem verpassen wir die erste Haltestelle, landen beim nächsten Halt aber direkt vor den Gemüseläden und dem Supermarkt. So gehen wir uns gleich ein paar Nudeln und ein wenig Gemüse kaufen und kochen abends gemütlich im Hostel. Ein Abendessen ohne Wein, denn der Kopf meldet sich nach diesem Tag und der Hitze doch zu Wort.